Ein alter Oratorianer meinte einmal: „Wir sind nur eine Randbemerkung in der Geschichte der Kirche.“ Aber eine eigenartige Randbemerkung, denn seit vierhundert Jahren gibt es Oratorianer, und doch haben sie weder Gelübde noch Versprechen. Im allgemeinen sind sie sehr individualistisch, leben aber dennoch ein intensives Gemeinschaftsleben. Sie haben eine Regel, aber die ist im Grunde die Beschreibung des Familienlebens, das der hl. Philipp in Rom begonnen hat. Dieser hat übrigens Jahre gebraucht, ehe er mit den Niederschriften der ersten Regel zufrieden war. Denn Philipp betonte immer wieder, daß er überhaupt keinen neuen Orden gründen wolle. Eigentlich war es die Kirche selber, die dieser Familie des Oratoriums im Rom der Renaissance Dauer geben wollte und deshalb im Jahre 1575 das Oratorium anerkannte.
Philipp sagt, nicht er sei der Gründer, sondern der Herr selber. Aber genauer könnte es der Name sagen, denn „Oratorium“ kommt von „orare“,
also von „beten“. Dies wiederum war nicht etwa ein Programm, sondern ganz einfach eine besondere Weise zu leben. Und zwar so: von Philipp, der in der römischen Altstadt lebte, ging eine
große Anziehungskraft aus, und täglich versammelten sich bei ihm vor allem junge Leute, die mit ihm über alles mögliche sprachen, aber auch mit ihm die Hl. Schrift lasen und beteten. Als
die Zahl wuchs, zog man auf einen kleinen Dachboden neben seinem Zimmer und über der Kirche San Girolamo um. Diesen schlichten Raum, der heute noch zu sehen ist, nannte man „Oratorium“,
und auch dieses familiäre Zusammensein mit Beten, Musik, Lesung und Gespräch wurde als „Oratorium“ bezeichnet. Herzstück des Oratoriums war von Anfang an die Liebe zur Hl. Schrift, besser
gesagt, zum Wort Gottes. Da wurde deutlich, daß dieses Wort ungeheuer lebendig ist, eine uralte Quelle, die immer frisch fließt.
Später, als die kleine Gemeinde aus Laien und Priestern auch in San Girolamo keinen Platz mehr hatte, zog man in die „neue Kirche“ um, die
„Chiesa Nuova“ im Herzen Roms. Damals war dann auch schon die sogenannte Kongregation entstanden, eine Gruppe von Weltpriestern, die zusammenlebte und deren erste Aufgabe die Betreuung
des Oratoriums, das heißt der großen Gruppe von Laien und Priestern war.
Angefangen hat also das Oratorium tatsächlich mit dem hl. Philipp Neri. Den Grund des Oratoriums hat aber ein anderer gelegt, wie Philipp
immer wieder betonte. Kurz vor seinem Tod hat er das Geheimnis aufgedeckt: Während er wieder einmal, wie oft, sich in den Katakomben von St. Sebastian in Rom zum Gebet zurückgezogen
hatte, erlebte er auch körperlich die Begegnung mit der Liebe Gottes. Nach dem Zeugnis von P. Consolini, der Philipp in seiner letzten Lebenszeit besonders vertraut war, sah Philipp eine
feurige Kugel in seine Brust eindringen und spürte dann, wie seine Brust sich über dem Herzen ausdehnte ... Der Kirchenhistoriker von Pastor schreibt über dieses Ereignis: „Diese
mystischen Zustände, die Philipp sein ganzes Leben lang begleiteten, erreichten ihren Höhepunkt an Pfingsten 1544 in einem Ereignis, das man mit den Wundmalen des hl. Franz von Assisi
vergleichen mag.“ Er nannte es auch einen Einbruch des Hl. Geistes in sein Leben, ein Ereignis, das nicht mit Worten zu fassen war, aber genau datierbar ist und ihn auch äußerlich
veränderte. Wichtiger aber ist, daß daher seine beharrliche Weigerung stammt, seine Gemeinschaft durch Versprechungen und Gelübde zu binden. „Einziges Band ist die gegenseitige Liebe“,
daran hielt er fest. Und damit ist das stärkste Band genannt, das es gibt: die Liebe.
Kardinal Newman sagte von Philipp: „Er ließ keine äußeren Formen oder Gebräuche zu, die als Eigenart des Oratoriums gelten sollten, außer
der gegenseitigen Liebe und harte Arbeit.“
Aber Philipp hat wie Paulus erfahren, daß die Bindung der Liebe erst die wahre Freiheit des Christen möglich macht. Das ist ja das Geheimnis
des hl. Philipp: Seit seinem Pfingsterlebnis in den Katakomben weiß er sich gebunden an den heiligen Gottesgeist, gepackt von seiner Liebe, die er weitergeben muß, aber auch ganz frei von
dem, was die meisten Menschen treibt. Kein Wunder, daß seit Philipp Neri der Oratorianer eine besondere Verehrung für den Hl. Geist hat, denn mit dem Pfingstereignis im Leben des hl.
Philipp hat ja alles angefangen.